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Die dritte Pause
Maigret fand seinen Kollegen Torrence nicht in der Halle, sondern in einem Zimmer der ersten Etage, wo für ihn ein ausgezeichnetes Abendessen serviert war. Der Kriminalobermeister blickte verschmitzt auf.
»Das hat der Geschäftsführer veranlaßt …«, erklärte er. »Er sieht mich lieber hier als unten … Er hat mich fast angefleht, dieses Zimmer zu nehmen und die feinen Mahlzeiten, die er mir bringen läßt …«
Er sprach leise. Er zeigte auf eine Tür.
»Die Mortimers sind nebenan …«
»Mortimer ist zurückgekommen?«
»Gegen sechs Uhr morgens, naß, verdreckt, wütend, die Kleidung voller Kreide oder Kalk …«
»Was hat er gesagt?«
»Nichts … Er hat versucht, unbemerkt sein Zimmer zu erreichen. Aber man hat ihm mitgeteilt, daß seine Frau in der Bar auf ihn wartete. Und das stimmte auch. Sie hatte schließlich ein brasilianisches Ehepaar eingeladen … Nur ihretwegen mußte die Bar offengehalten werden … Sie war fürchterlich betrunken …«
»Und weiter?«
»Er ist blaß geworden. Sein Mund verzerrte sich. Er hat die beiden Brasilianer nur kühl gegrüßt, dann hat er seine Frau am Arm gepackt und wortlos hinausgeschleppt … Ich bin sicher, daß sie bis vier Uhr nachmittags geschlafen hat. Bis dahin war in ihrem Appartement kein Laut zu hören … Dann Geflüster … Mortimer hat telefoniert, man sollte ihm Zeitungen bringen …«
»Sie haben doch hoffentlich nicht über den Fall berichtet?«
»Kein Wort! Die Anweisungen sind befolgt worden. Nur eine Kurzmeldung, daß im Nordexpreß eine Leiche gefunden wurde und die Polizei von einem Selbstmord ausgeht …«
»Weiter?«
»Der Kellner hat ihnen Zitronensaft heraufgebracht. Um sechs ist Mortimer ein paarmal durch die Halle gegangen und zwei- oder dreimal in Gedanken versunken nah an mir vorbeigekommen. Er hat chiffrierte Telegramme an seine New Yorker Bank und an seinen Sekretär aufgegeben, der sich seit einigen Tagen in London aufhält …«
»Ist das alles?«
»Jetzt essen sie zu Abend. Austern, gebratenes Huhn, Salat. Man hält mich über alles auf dem laufenden. Der Geschäftsführer ist so froh, mich hier eingesperrt zu haben, daß er sich schier überschlägt, um mir gefällig zu sein. So hat er mir eben mitgeteilt, daß die Mortimers Karten für das ›Gymnase‹ haben. Die Epopée. Vier Akte von ich weiß nicht mehr wem …«
»Das Appartement von Pietr?«
»Nichts! Niemand hat es betreten. Ich habe die Tür abgeschlossen und ein Wachskügelchen ins Schloß gedrückt, so daß keiner hinein kann, ohne daß ich es merke …«
Maigret hatte zu einer Hühnerkeule gegriffen, die er wie selbstverständlich verschlang, während er vergebens nach dem nicht vorhandenen Ofen suchte. Schließlich setzte er sich auf die Heizung und fragte:
»Nichts zu trinken?«
Torrence reichte ihm ein Glas mit ausgezeichnetem weißen ›Mâcon‹, das er hinunterkippte. Im selben Augenblick wurde an die Tür geklopft; ein Hotelangestellter trat mit Verschwörermiene ein:
»Der Geschäftsführer bittet mich, auszurichten, daß Herr und Frau Mortimer ihren Wagen haben vorfahren lassen.«
Maigret warf einen bedauernden Blick auf den noch immer reich gedeckten Tisch – genauso hatte er kurz vorher den Ofen in seinem Büro angesehen.
»Ich gehe schon«, sagte er unwillig. »Bleiben Sie hier!«
Vor dem Spiegel machte er sich ein wenig zurecht, wischte seine Lippen und das Kinn ab. Wenig später wartete er in einem Taxi darauf, daß die Mortimer-Levingstons in ihre Limousine stiegen.
Sie erschienen auch bald, er in einem schwarzen Überzieher, der seinen Anzug verbarg, sie wie am Abend zuvor in Pelze gehüllt. Sie schien geschwächt zu sein, denn ihr Mann stützte sie leicht mit seiner Hand. Das Auto fuhr geräuschlos ab.
Maigret, der nicht wußte, daß im ›Gymnase‹ eine Premiere stattfand, wäre beinahe nicht hineingelassen worden. Stadtgendarmen waren vor der Markise aufgereiht. Trotz des Regens schauten Neugierige zu, wie die Gäste aus ihren Wagen stiegen.
Der Kommissar mußte sich an den Direktor wenden, durch die Wandelgänge gehen, wo er unangenehm auffiel, denn er war der einzige, der hier ein einfaches Sakko trug.
Der Direktor war aufgeregt. Er rang die Hände.
»Ich würde es ja mit dem größten Vergnügen tun! Aber Sie sind der Zwanzigste, der mich um ein ›Plätzchen‹ bittet. Es sind keine Plätze mehr frei! Und Sie sind noch nicht einmal im Abendanzug! …«
Man rief von allen Seiten nach ihm.
»Sie sehen doch! Versetzen Sie sich in meine Lage! …«
Maigret blieb schließlich an eine Tür gelehnt zwischen den Logenschließerinnen und Programmverkäuferinnen stehen.
Die Mortimer-Levingstons hatten eine Loge. Sechs Personen saßen darin, darunter eine Prinzessin und ein Minister. Leute kamen und gingen. Hände wurden geküßt, Lächeln ausgetauscht.
Der Vorhang hob sich über einem sonnigen Garten. »Psst«-Laute. Geflüster. Füßescharren. Endlich die Stimme des Schauspielers, unsicher erst, dann fester, Atmosphäre schaffend.
Aber immer noch kamen Nachzügler. Und wieder: »Psst!« Irgendwo lachte eine Frau leise auf.
Mortimer war mehr denn je Grandseigneur. In seinem Frack sah er glänzend aus. Die weiße Hemdbrust betonte noch den Elfenbeinton seiner Haut.
Sah er Maigret? Oder sah er ihn nicht? Eine Logenschließerin brachte dem Kommissar einen Hocker, den er mit einer dicken, schwarzseidenen Dame, der Mutter einer Schauspielerin, teilen mußte.
Erste, dann zweite Pause. In den Logen ein Kommen und Gehen. Künstliche Begeisterung. Grüße flogen vom Parkett zum Balkon. In den Wandelgängen, im Foyer und selbst in der Vorhalle summte es wie in einem aufgescheuchten Bienenstock. Geflüsterte Namen, Namen von Maharadschas, Bankiers, Staatsmännern, Künstlern.
Mortimer verließ dreimal seine Loge, erschien in einer Proszeniumsloge, dann im Parkett und unterhielt sich mit einem ehemaligen Ministerpräsidenten, dessen sonores Lachen man noch zwanzig Reihen weiter hörte.
Ende des dritten Aktes. Blumen auf der Bühne. Rasender Beifall für eine etwas schmächtige Schauspielerin. Der Lärm der hochklappenden Sitze. Das aufwogende Geräusch der Schuhe auf dem Parkett.
Als sich Maigret zur Loge der Amerikaner umdrehte, war Mortimer-Levingston verschwunden.
Kurz vor dem vierten und letzten Akt. Das war der Augenblick, in dem diejenigen, die es sich aus irgendeinem Grund erlauben konnten, hinter die Kulissen und in die Garderoben der Schauspieler eilten. Andere kümmerten sich bereits um ihre Mäntel. Autos und Taxis wurden bestellt.
Maigret verlor zehn kostbare Minuten damit, im Inneren des Theaters zu suchen. Dann mußte er sich ohne Hut und Mantel draußen erkundigen, die Stadtgendarmen, den Ordnungsdienst, die Polizisten befragen.
Schließlich erfuhr er, daß der olivgrüne Wagen Mortimers gerade abgefahren war. Man zeigte ihm den Platz, wo er geparkt hatte. Vor einem Bistro, in dem Verkäufer von Pausenbillets verkehrten.
Das Auto hatte sich in Richtung Porte Saint-Martin entfernt. Der Amerikaner hatte seine Garderobe nicht abgeholt.
Zuschauergruppen standen draußen und schöpften an regengeschützten Stellen frische Luft.
Die Hände in den Taschen, rauchte Maigret mit mürrischem Gesicht eine Pfeife. Das Klingelzeichen ertönte. Die Leute strömten zu ihren Plätzen zurück. Auch die Gendarmen verschwanden, um dem letzten Akt beizuwohnen.
Auf den Straßen herrschte wieder die entspannte Elf-Uhr-Abend-Atmosphäre. Die Regenstreifen vor den Lichtern wurden dünner. Ein Kino spie seine Besucher aus, löschte seine Lampen und schloß die Türen, nachdem die Reklametafeln hereingeholt waren.
Unter einer Laterne mit grüner Markierung warteten Leute auf einen Omnibus. Als er ankam, gab es Diskussionen, weil keine Aufrufnummern mehr da waren. Ein Schutzmann griff ein und stritt sich noch lange, nachdem der Bus abgefahren war, mit einem korpulenten, aufgebrachten Mann herum.
Endlich glitt eine Limousine auf dem Asphalt heran. Der Wagenschlag öffnete sich, als sie zu bremsen begann. Mortimer-Levingston sprang im Frack und ohne Kopfbedeckung leichtfüßig die Stufen der Freitreppe hinauf und trat in das warme Licht der Wandelgänge.
Maigret betrachtete den Chauffeur, einen hundertprozentigen Amerikaner mit hartem Gesicht und hervorspringenden Kinnbacken, der unbeweglich auf seinem Platz saß, als sei er in seiner Livrée erstarrt.
Der Kommissar ließ sich nur eine der gepolsterten Türen etwas öffnen. Mortimer stand im Hintergrund seiner Loge. Ein Schauspieler stieß sarkastisch abgehackte Sätze hervor. Der Vorhang fiel. Blumen. Prasselnder Beifall.
Sturm auf die Ausgänge. »Psst«-Laute. Der Schauspieler verkündete den Namen des Autors, holte ihn aus der Proszeniumsloge und führte ihn in die Mitte der Bühne.
Mortimer küßte Hände, andere drückte er und gab der Logenschließerin hundert Francs Trinkgeld, nachdem sie ihm seine Garderobe gebracht hatte.
Seine Frau war blaß und hatte violette Ringe unter den Augen. Als sie beide im Auto saßen, schienen sie einen Augenblick unentschlossen zu sein.
Sie diskutierten lebhaft. Mrs. Levingston widersprach gereizt. Ihr Mann zündete sich eine Zigarette an und löschte sein Feuerzeug mit einer kurzen wütenden Bewegung.
Schließlich gab er durch die Sprechanlage eine Anweisung, und das Auto fuhr, von Maigrets Taxi gefolgt, davon.
Es war null Uhr dreißig. Rue La-Fayette. Die bleichen Säulen der Dreifaltigkeitskirche waren von Gerüsten umgeben. Rue de Clichy.
Die Limousine hielt in der Rue Fontaine vor Pickwick’s Bar. Ein Portier in Blau und Gold. Garderobe. Geraffte rote Vorhänge und Tangorhythmen.
Maigret ging auch hinein und setzte sich an einen Tisch in der Nähe der Tür, wo sich offenbar niemand gerne niederließ, da es hier von allen Seiten zog.
Die Mortimers hatten in der Nähe der Jazzkapelle Platz genommen. Der Amerikaner studierte die Speisekarte und stellte ein Menü zusammen. Ein Eintänzer verbeugte sich vor seiner Frau.
Sie tanzte. Levingstons Blick folgte ihr mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit. Sie wechselte ein paar Worte mit ihrem Partner, drehte sich jedoch kein einziges Mal zu der Ecke um, in der Maigret saß.
Hier sah man neben Gästen in Abendkleidung auch einige Ausländer im Straßenanzug.
Der Kommissar winkte einer Professionellen, die sich zu ihm an den Tisch setzen wollte, mit einer Handbewegung ab. Ohne daß er sie bestellt hatte, brachte man ihm eine Flasche Champagner. Überall hingen Luftschlangen. Baumwollkügelchen flogen hin und her. Eins traf ihn an der Nase, und er blickte wütend zu der alten Dame hinüber, die auf ihn gezielt hatte.
Mrs. Mortimer hatte sich wieder hingesetzt. Nachdem der Tänzer über die Tanzfläche geirrt war, wandte er sich dem Ausgang zu und steckte sich eine Zigarette an.
Dann schob er plötzlich den roten Samtvorhang beiseite und verschwand. Drei Minuten etwa verflossen, ehe Maigret einfiel, sich draußen einmal umzusehen.
Der Eintänzer war nicht mehr da.
Alles übrige war langweilig und trist. Die Mortimers speisten ausgiebig: Kaviar, Trüffeln in Champagner, Hummer auf amerikanische Art und Käse.
Mrs. Mortimer tanzte nicht mehr.
Maigret, der keinen Champagner mochte, trank ihn in kleinen Schlucken, um seinen Durst zu löschen. Auf seinem Tisch standen geröstete Mandeln, die er unvernünftigerweise knabberte und die ihn fürchterlich durstig machten.
Er sah auf seine Uhr: gleich zwei.
Die Bar leerte sich. Eine Tänzerin führte mit vollendeter Gleichgültigkeit ihre Nummer vor. Ein betrunkener Ausländer, an dessen Tisch drei Frauen saßen, machte mehr Krach als alle anderen Gäste zusammen.
Der Eintänzer, der nur eine Viertelstunde draußen geblieben war, hatte noch einige Damen aufgefordert. Doch nun war Schluß. Man spürte die allgemeine Müdigkeit.
Mrs. Levingston hatte eine bleierne Gesichtsfarbe und bläuliche Augenlider. Ihr Mann gab dem Kellner ein Zeichen. Pelz, Mantel und Zylinder wurden gebracht.
Maigret hatte den Eindruck, daß der Eintänzer, der neben dem Saxophonisten stand und redete, ihn ängstlich ansah.
Er rief nach dem Geschäftsführer, der auf sich warten ließ. Wieder ein paar verlorene Sekunden.
Als der Kommissar endlich gehen konnte, bog der Wagen der Amerikaner um die Ecke der Rue Notre-Dame-de-Lorette. Am Bürgersteig hielt ein halbes Dutzend freie Taxis.
Er ging auf eines davon zu.
Man hörte den trockenen Knall eines Schusses, und Maigret faßte sich an die Brust, blickte sich um, sah nichts, vernahm aber Schritte, die sich in der Rue Pigalle verloren.
Er lief noch ein paar Meter, als würde er von dem Stoß, den er erhalten hatte, fortgerissen. Der Portier eilte herbei und stützte ihn. Leute kamen aus dem Pickwick’s, um zu sehen, was geschehen war. Maigret erkannte unter ihnen das verzerrte Gesicht des Eintänzers.